Ich war, ich bin, ich werde sein. Ferdinand Freiligrath
Reden ist unser Privileg. Wenn wir ein Problem haben, das wir nicht durch Reden lösen können, dann hat alles keinen Sinn. Deshalb zu sagen was ist, bleibt die revolutionärste Tat. Rosa Luxemburg
Die Süddeutsche Zeitung und DIE ZEIT waren die für mich als Zeitungsjournalist die wichtigsten und prägendsten Stationen.
“Ich habe einen Traum“ – Heidi Klum im ZEIT-Interview (25.11.2004) mit Marc Kayser
Heidi Klum, damals 31, geboren in Bergisch-Gladbach, war und ist das erfolgreichste deutsche Model. Als Schülerin gewann sie einen Wettbewerb, nach dem Abitur zog sie nach New York und wurde durch ein Titelbild auf der „Sports Illustrated“ bekannt. Heidi Klum lebt in den USA. Hier träumt sie davon, ihre Träume nicht zu verlieren.
Von Marc Kayser – Als man mich fragte, ob mir ein Traum einfiele, erinnerte ich mich daran, wie ich als junges Mädchen meine Fantasien in Kleidungsstücke hinein webte und hoffte, jemand würde bemerken, dass ich nicht nur nähte, sondern auch etwas erfand. Pailletten in verschiedenen Farben, funkelnde Strasssteine und gerade und schräge Schnitte sollten aus meinen Entwürfen immer etwas Besonderes machen, sollten anderen auffallen und zeigen, dass die Näherei eine Kunst sein kann. Träume sind etwas Kunstvolles, sind Gespinste, so leicht wie Chiffon, und sie haben die Fähigkeit, dahinzuwehen wie Seidenschals im Wind.
Ich gehe durch mein Leben mit erhobenem Kopf, um den ich mir – für andere unsichtbar – Tücher binde, aus diesem leichten Traumstoff, der, wenn er mich berührt, die heiße Stirn kühlt. Das kann Seide auch: kühlen, wenn es warm ist, und wärmen, wenn Wind weht. Als Näherin wollte ich hoch hinaus. In jede Naht verwebte ich Traum-Moleküle, von denen ich hoffte, sie würden mich auf den Olymp einer gefeierten Modedesignerin heben.
Doch die Realität sieht anders aus. Ich lebe wie in einem goldenen Ei, aus dem ich immer dann herausschlüpfe, wenn mir Termine sagen: Heidi, das ist jetzt gut und notwendig für dich. Leider sind das tägliche Termine, manchmal ein ganzer Strauß, der am Ende nicht mehr duftet, sondern streng zu riechen beginnt.
Die Welt kennt mein Gesicht. Sie liegt richtig mit der Vermutung, ich würde viel Geld damit verdienen. Die Presse hat Recht, wenn sie schreibt, ich sei gerade glücklich mit einem Mann, stolz auf meine Tochter und verliebt in meine Eltern. Ich werde getragen von Anerkennung, Achtung, Glück und der Sympathie vieler Menschen. Amerika, Europa, Asien: Titelbilder erzählen die immergleiche Geschichte von meinen Haaren, meinen Augen, meiner Nase und meinem Mund. Was die Titelbilder, Titelgeschichten und Autoren nicht erzählen: Ich habe keine Zeit. Ich bin das Opfer des Menschen Heidi Klum, ich bin zu einem Produkt geworden, das stets gehegt und umworben werden will.
Über mich selbst, über mein eigenes Leben habe ich noch nicht viel herausgefunden. Ich bemerke, wie leicht es mir fällt, Erfolg zu haben und zu genießen, was um mich herum und mit mir geschieht.
Ich bin auf der Sonnenseite des Lebens, möchte auch gar nichts anderes behaupten, und manchmal fürchte ich mich davor, mir Fragen zu stellen wie: Vermisse ich etwas? Geht es mir zu gut? Was wäre, wenn ich plötzlich eine schwere Krankheit hätte? Was müsste man lesen, was einen weiterbringt? Bin ich politisch?
Es träumen immer jene, die sich nach etwas sehnen, habe ich einmal gelesen. Wonach ich mich sehnte, das habe ich bekommen: Man sagt, ich sei schön, erfolgreich und um mein Glück zu beneiden. Darf man Träume haben, wenn man so glücklich ist wie ich?
Träume zu haben bedeutet, über sich selbst nachgedacht, sich selbst erkannt zu haben. Habe ich das? Der Alltag ist der Feind des Nachdenkens, denn er ist ein Dieb von Zeit. Ich träume davon, meine Träume nicht zu verlieren.
Als Paillettennäherin habe ich im Traum nicht geglaubt, einmal sagen zu müssen, dass mir meine Träume abhanden zu gehen drohen. Ich hätte nie gedacht, dass mir die Zeit für die natürlichsten Dinge der Welt fehlen würde. Für Freunde kochen. Mit Freunden ausgehen. Mir ein Kleid nähen. Mit meiner Tochter Leni in den Zoo gehen. Einfach gemütlich im Bett liegen bleiben, wenn ich eigentlich aufstehen müsste.
Nimm dir doch Zeit, Heidi!, höre ich die Menschen rufen. Arbeite doch weniger! Du hast es in der Hand! Bemitleide dich doch nicht selbst! Genieße deinen Erfolg und jammere nicht! Aber so einfach ist das nicht, Herrschaften! Erfolg muss man erhalten, denn er ist wie ein gefräßiges Tier, stets auf der Suche nach Nahrung. Fliegen um die Welt – obwohl ich Flugangst habe. Immer lächeln, immer schön sein, niemals fluchen, niemals blöd sein. Identifizieren, interpretieren, korrigieren, kritisieren.
In den Augen meines Publikums bin ich Ikone und Schlampe zugleich. Aus den Fenstern mancher Hotels sehe ich an den Kiosken mich selbst. Bin ich das oder meine Doppelgängerin? Wer war da beim Foto-Shooting noch vor drei Tagen in Mailand, während ich heute schon wieder in Los Angeles auf Nachrichten von meiner Agentin warte? Ist das Heidi 2?
Wer saß Modell für elegante Bustiers, während Leni im Nachbarstudio nach Milch verlangte? Bin ich das wirklich auf den Titelblättern, die ihren Freund im Arm hält, oder lag ich derweil im Bett und träumte davon, wer Heidi Klum wirklich ist? Kann ich gleichzeitig überall präsent sein, weil parallel Hunderte Redakteure mein Gesicht und meine Figur für ihre Produkte gebrauchen? Heidi 2 ist das Abziehbild, der Avatar, die perfekte Täuschung, das Falsifikat für ein Publikum weltweit.
Während sie arbeitet, habe ich Zeit, über einen Traum zu reden, der immer wieder so beginnt: Es war einmal eine Paillettennäherin, die nicht wusste, wer sie war. Sie war sehr jung, handwerklich geschickt, hatte ein gestalterisches Talent und wollte als Modedesignerin die Welt erobern. Doch es kam alles ganz anders.
Quelle Text und Foto: (c) DIE ZEIT 25.11.2004 Nr.49
Marc Kayser mit Ex-BND-Chef Hans-Jörg Geiger, Ex-Spiegel-Chefredakteur Stefan Aust, Moderator Frank Elstner, Alfred Biolek († 2021) und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier v.l.n.r.
Marc Kayser im Gespräch mit dem Politiker Gregor Gysi, der ihm für DIE ZEIT erzählte, dass er oft davon träumen würde, sein Leben aus der Perspektive einer Frau zu sehen
Marc Kayser zählt zu den begehrtesten Interviewern Deutschlands.
Handelsblatt, Düsseldorf
Ehrungen
Italienischer Umwelt-Journalistenpreis 2002 für seine Vorort- Reportage über den Ausbruch des Ätna – „Fasziniert vom Feuer“, erschienen in Die Zeit
Lead-Award für das Kunstmagazin „Qvest“ „Bestes Magazin der Jahre 2003 und 2005“
Literaturpreis eines Stadtschreibers, Kurt-Tucholsky-Museum, Rheinsberg 2013
Lehre
1. Oktober 2022 an unterrichtete er bis Februar 2024 in Berlin als Lehrbeauftragter an der Hochschule Macromedia, University of Applied Sciences, die Fächer „International Journalism“ und „Innovative Konzepte im Journalismus“, an der iu University of Applied Sciences im Fach Presse- und Medienstrategien.
Darüber hinaus gab es Auftritte und Berichte über Kaysers Arbeiten im Radio, in der MDR-Talkshow Riverboat, MDR um 11, der RBB-Sendung „zibb“, NDR Nordmagazin und Interviews in weiteren nationalen und internationalen Zeitungen.
Zusammengefasst (vgl. diverse Veröffentlichungen, Wikipedia, Senderverbund ARD)
Marc Kayser ist Medienberater, Kommunikationsstratrege, Universitätsdozent und schreibt gelegentlich auch Bücher. Von März 2024 bis November 2024 beriett er die BSW-Vorsitzende und Bundestagsabgeordnete Dr. Sahra Wagenknecht in Fragen der Corporate Communications, zu Medienstrategien und Medienformaten. Er moderierte und produzierte den Videopodcast „Sahra trifft…“ gemeinsam mit der BSW-Gruppe im Bundestag.
Mit dem SPD-Urgestein Klaus von Dohnanyi führte er ein 30-minütiges Interview über dessen Haltung zu den USA, dem Krieg in der Ukraine und den Leiden während des Zweiten Weltkriegs als Kind und junger Mann.
In den Jahren zuvor arbeitete er für überregionale Tageszeitungen wie BILD München, Süddeutsche Zeitung, DIE ZEIT, Weltwoche Schweiz, sowie internationale Magazine und für verschiedene Fernsehsender wie ARD und RTL. Er coachte Manager, Politiker und Künstler. Er war Mitbegründer und Chefredakteur des Kunst- und Designmagazins Qvest.
2012 verpflichtete ihn die Stadt Rheinsberg als Stipendiat und Stadtschreiber. Von 2013 bis 2016 war er als Autor und Redaktionsberater bei Hubert Burda Media unter Vertrag. Danach arbeitete er zwei Jahre lang als PR Berater im Berliner Politik- und Wirtschaftsbetrieb.
Seit 2008 erschienen insgesamt zehn Romane und Sachbücher. In seinen Krimis verarbeitet Kayser oft geheimdienstliche Verwerfungen und rechtsnationale Auswüchse, wie zuletzt in „Der Schatten aus dem Ramper Moor“, wo er sich mit Neonazi-Tendenzen und demokratiefeindlichen Vereinigungen auseinandersetzt. Zwei seiner Romane beschäftigen sich zudem mit Tätern von krimineller, sexueller Gewalt. Zu seinen bekanntesten Zitaten gehört der Aphorimus: Glück hat der, der Glück erkennt.
Wenn Marc Kayser etwas schreibt, dann stimmt es auch.
Karl Lagerfeld ( † 2019), in der ARD-Sendung „Beckmann“
Marc Kayser mit Ministerpräsidentin Manuela Schwesig, der Künstlerin Nina Hagen und Ministerpräsident Dietmar Woidke v.l.n.r.
Es gibt keine Antwort. Es wird keine Antwort geben. Es hat niemals eine Antwort gegeben. Das ist die Antwort. Gertrude Stein (Schriftstellerin, Verlegerin, Kunstsammlerin, Salondame, Jüdin, Freundin Picassos und Hemingways, lesbisch, toll (!) † 1946 bei Paris)
Marc Kayser bei einem Interview im deutschen Fernsehen
Schulmeister meines Lebens
Christenlehre bei Don Camillo (aus DIE ZEIT)
Von Marc Kayser
Ich erlebte einen Ostseesturm, der gurgelnde, tonnenschwere Wassermassen auf das Vordeck des Schiffes trieb und in dem nur der nicht über Bord zu gehen drohte, der sich ordentlich festgeseilt hatte. Ich war Decksmatrose und hatte Nachtdienst. Ich hatte Angst, ganz klar; das Licht war ausgefallen, und die Maschinen stampften, als wär’s ihre letzte Arbeit. Selbst der Kapitän war sich nicht mehr sicher, wohin wir in der Dunkelheit gerade trieben, denn der alte Kahn hatte noch kein Radar an Bord. Da fiel mir Pfarrer Malzow ein, und wie er davon erzählte, dass Thomas, einer der Jünger Jesu, einen Ausweg suchte, weil er spürte, dass sich die Schlinge um Jesus langsam zuzog. Thomas hatte gefragt: „Wie können wir den Weg wissen?“ Und Jesus antwortete: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ In Gummimantel, Gummihosen, Gummistiefeln und mit einem Südwester auf dem Kopf faltete ich die Hände, betete – und erinnerte mich.
Pfarrer Herbert Malzow war ein kluger Mann, der wusste, dass man einem 12-Jährigen kein X für ein U vormachen konnte. Kam es also immer mal wieder bei der Christenlehre auf den Satz von Jesus: „Niemand kommt zum Vater, denn durch mich“, rief ich stets erheitert: „Ich schon!“ Er hatte mich dann immer freundlich angesehen mit seinen warmen, braunen Augen und gesagt: „Ich weiß, Marc, du willst mal Kosmonaut werden.“
In meinem Heimatort in Mecklenburg zur Christenlehre zu gehen bedeutete, man wechselte einfach das Gebäude, ging aber dennoch weiter zur Schule und erhielt Unterricht. Pfarrer Malzow, der also einmal pro Woche für mich zum Lehrer wurde, prägte im Dorf den Begriff einer „Schule des Glaubens“. Er setzte diese Idee einfach durch beim SED-Bürgermeister, der das Vorhaben anfangs beschmollte, es aber dann doch prima fand, weil er die Filme mit Don Camillo und Peppone gesehen – und sich in sie verliebt hatte. Der Kommunist Peppone, Bürgermeister eines kleinen italienischen Dorfes, der sich der Bauernschläue und Christenstärke Don Camillos kaum erwehren kann, aber dennoch das eine oder andere Mal trotz seiner stalinistischen Ansichten obsiegt: Das gefiel dem (ost)deutschen Bürgermeister, machte ihn stark in seiner Entscheidung, Pfarrer Malzow einen Lehrerstatus zu verleihen und ein paar Kinder zu überlassen. Malzow kannte die Filme und mochte sie auch, aber aus anderem Grund: Es waren für ihn Pyrrhussiege, die Peppone errang.
Panzeroffizier, Russlandfeldzug, traumatische Erlebnisse: Herbert Malzow trug eine Last, die andere ihm aufbürdeten. Von diesen Kriegserlebnissen geschockt, studierte er Theologie in der DDR. Nicht einfach für mich Heranwachsenden – der Spagat zwischen dem Kapital von Marx und dem Evangelium des Johannes. Malzow erkannte den Konflikt und löste ihn auf seine Weise: Wir sollten eine Krippe bauen und hineintun, was uns beschäftigte und gefiel. Am Ende war es ein Triptychon, präsentiert auf dem Altar zu Weihnachten: Matchbox-Autos, Fahnenmaste, Lämmer, Stroh, Kondensatoren, Schulbuchdeckel auf der linken Seite. Glühbirnendrähte, die drei Könige, eine Siebziger-Jahre-Brille, ein Modell des Mondfahrzeugs Lunochod und eine Wiege in der Mitte. Ein paar Gitarrensaiten, Kerzen, die amerikanische Fahne im Miniformat, ein bisschen Sand vom Friedhof und eine Schale Wasser aus dem „Brunnen des gefallenen sowjetischen Soldaten“ rechts von allem. Die Gemeinde zeigte Zurückhaltung, der Bürgermeister blieb dem fern.
Als mein bester Lehrer starb, war ich 18, und statt in den Kosmos zu fliegen, war ich ebenjener Matrose auf einem Schiff in der Ostsee. Ich führte das Schiffstagebuch und schrieb hinein, was der Kapitän befahl, wann Maschinisten den Diesel reparierten, wo uns mal ein Wind schlimm erwischte und warum wir alle an den Klabautermann glaubten – und nicht an Gott. In diesen Tagen ging es mir nicht gut. „Hat mich Pfarrer Malzow verlassen, weil ich ihn verlassen habe?“, fragte ich mich im Tagebuch, aber fand keine Antwort. Als ich die DDR vor dem Mauerfall verließ und auf dem Bahnhof Friedrichstraße die Grenzkontrollen passierte, dachte ich an meinen Pfarrer, an die Krippe und den Sturm. Als ich drei Tage später in München zum ersten Mal Obdachlose und Junkies sah, dachte ich an Marx und das Kapital.
Nochmals die freundliche Anmerkung: keine der Fotos dürfen ohne meine Genehmigung oder derjenigen Personen, die abgebildet sind, anderweitig verwendet werden!
Fotos: Nikola Kuzmanic, Uwe Tölle, privat, Superillu, BUNTE, DIE ZEIT, Süddeutsche Zeitung, rbb, ARD